Sonntag, 29. November 2015

Nu descendant un éscalier (1912)

von Marcel Duchamp
Öl auf Leinwand
147 x 89,2 cm

1. Bestandsaufnahme – Was?

Erster Eindruck:
Auf den ersten Blick wirkt das Gemälde hell, verwirrend, chaotisch, verschwommen und dunkel-/ hellkontrastreich.

Erste Vermutungen:
Eine erste Vermutung lautet, es handele sich auf dem Gemälde um Personen mit Musikinstrumenten. Des Weiteren kommt der Gedanke eines Brückengebildes auf, welches sich durch eine Holzstruktur auszeichnet.
Durch genaues Betrachten wird die richtige Intention des Malers erkannt, bei der es sich um eine Personendarstellung handelt. Diese ist in verschiedenen Positionen der Bewegung (Hinunterlaufen einer Treppe) dargestellt. Auch der Titel des Bildes „Akt, eine Treppe herabsteigend“ bestätigt diese Vermutung.

Ausführliche Bildbeschreibung:
In der Mittelzone des Bildes befindet sich eine Person, die in Bewegung dargestellt ist. Der Maler stellt dabei das  Hinabsteigen dar, in dem er die verschiedenen Bewegungsphasen nacheinander und überschneidend malt. Erkennbar ist, dass die Positionen im Hintergrund immer undeutlicher dargestellt werden und oft ineinander übergehen. Am Ende der Bewegungsspur ist die Person am deutlichsten zu erkennen. Die Körperform ist jedoch nur indirekt aus Teilformen von Ellipsen und Trapezen erschließbar.
Die Person ist sehr hell gemalt und lässt sich so vom dunklen Hintergrund sehr gut unterscheiden. Im Hintergrund bzw. in den Bildecken lassen sich Formgebilde einer Treppe gut erkennen. Diese bilden gleichzeitig auch den Untergrund, auf dem die Person geht. Außerdem lässt sich am rechten Bildrand auch die Kugel am Ende des Geländers ausfindig machen, welche die Idee der Treppe noch einmal verstärkt.

Verhältnis Bild – Betrachter:
Der Blick des Betrachter wird automatisch auf die Person im Zentrum des Bildes gelenkt, da diese sehr hell dargestellt wird (vgl. Hell-/Dunkelkontrast).
Jedoch wirkt diese vom Maler gewählte Darstellung eher verwirrend und wird erst bei genauerem Anblick logisch für den Betrachter.


2. Analyse der Gestaltungsmittel – Wie?

Organisation der Bildfläche:
Das Gemälde „Akt, eine Treppe herabsteigend“ ist ein schmales hochformatiges Bild. Die dunkeln Bildecken bilden eine Art Rahmen für die Person, sie haben das Motiv der Treppe.
Die Mittelzone des Bildes ist folgendermaßen organisiert:

faktische und fiktive Kompositionslinien

faktische Linien:
Aufeinanderfolgende Flächen und Linien deuten einzelne Körperteile an. Hierbei stechen die Linien der Kopfhaltung heraus ( hier: rot), welche aufzeigen, dass die Person den Kopf nach unten geneigt hat und den Betrachter somit nicht anblickt.
Weiter Linien und Flächen deuten Rumpf und Arme (grün), Becken (hellblau) und Beine (dunkelblau) an.
Doppellinien und parallele Linien drücken Bewegung aus. Diese Bewegung wird durch geschwungene Bögen in Form von Bewegungslinien begleitet. Der Charakter der Linien wird von links oben nach rechts unten immer geradliniger, monotoner und präziser. Er wirkt in der zuletzt dargestellten Bewegungsphase sogar technisch.

fiktive Linien:
Die einzelnen hintereinander gestaffelten Körperformen bilden jeweils eine abfallende Diagonale (gelb). Nach Kandinsky wirkt die abfallende Linie negativ. Die Abfolge der (tatsächlichen) Mitte des Körpers (auf Schambeinhöhe, hier hellblau) halbiert das Gemälde in zwei gleichgroße Trapeze (mittlere gelbe Diagonale).


Zusammenfassend wird deutlich, dass die Haltung der dargestellten Person immer aufrechter wird. (vgl. dunkelblaue und hellgrüne Linien). Die Gesamtheit der Linien zeigt eine rhythmische Anordnung auf, welche die absteigenden Diagonalen konkretisieren. Außerdem werden die Linien vom Hintergrund in den Vordergrund übergehend immer präziser.


Flächen:
Die Flächen des Gemäldes zeichnen sich zum einen durch Dreiecke, Kreise und Halbkreise als auch durch Vierecke und spitze Winkel aus. Die einzelnen Abschnitte gehen ineinander über und verschwimmen in Richtung des dunkelwerdenden Hintergrunds. Der auffallende Hell-/ Dunkelkontrast hebt die Personendarstellung vom Hintergrund hervor, sodass die Figur strahlend und leuchtend auftritt. Der Hintergrund wirkt als Rahmen dagegen eher dunkel und düster.

Organisation des Bildraumes:
Legt man den Fokus als erstes auf die Größenveränderung der Linien (v.a. die hellblau und dunkelblau markierten), so lässt sich feststellen, dass sie von links oben nach rechts unten größer werden. Begleitend dazu werden die Farben heller und die Linien präziser. Dies verleiht der Bewegung der Figur eine gewisse Räumlichkeit. Auch das Überschneiden der dargestellten Bewegungsphasen und die Andeutung von Schatten unterstützen den räumlichen Eindruck. Es lässt sich zwar erkennen, dass es eine Beleuchtung von vorne gibt, jedoch lässt sich keine eindeutige Lichtquelle ausfindig machen.

Die helle Darstellung der Bewegungsphasen tritt durch den Kontrast zu den dunkeln Randzonen mit dem Motiv der Treppe in den Vordergrund. Auch in der Darstellung der Treppen lasen sich Ansätze von Räumlichkeit erkennen: rechts oben Treppenstufen im Schrägbild, links oben werden die Abstände zwischen den Stufen nach unten hin größer, und links unten sehen wir die größten Stufen in Profilansicht. Sie dienen der Figur als eine Art Sockel. Davor sehen wir wiederum kleine Stufen in Schrägbild und darüber Stufen, die an ein Wasserrad erinnern. Insgesamt wirken die Treppenstufen surreal oder nur wie eine Idee von Treppe, mit der der Randbereich gefüllt wird.

Farbe als Grundelement:
Farben und Farbkontraste:
Bei diesem Gemälde handelt es sich um eine warme, monochrom gehaltene Farbpalette ( von hellem Gelb über Ocker hin bis fast schwarze Töne).
Der Künstler verwendet für den Hintergrund hauptsächlich Brauntöne und für den Vordergrund helle Beigetöne. Die hellen Töne im Zentrum des Gemäldes zeigen dazu eine gewisse starke Intensität auf, wohingegen die Intensität im dunklen Hintergrund eher schwach und düster ist. Der Vordergrund hebt sich durch den Hell-Dunkel-Kontrast deutlich vom Hintergrund ab.

Farbfunktion und Malweise:
Die Farbe wurde hier flächig aufgetragen und dunkle Konturen und abgedunkelte Flächen lassen die einzelnen Bewegungsphasen erkennen.
Die Farbe wurden teilweise lasierend aufgetragen, sodass manche Formen transparent wirken. Die meisten Flächen sind einfarbig oder haben einen leichten Hell-Dunkel-Verlauf, der nicht den ursprünglichen Körperformen folgt und der letzten Bewegungspose einen metallischen Glanz verleiht. Dies betont die Flächigkeit des Bildes und unterstreicht sowohl Konturen als auch einzelne Formen.
Da die Farben der Positionen im Hintergrund dunkler sind, kann man daraus schließen, dass diese zurückliegen, also Vergangenheit sind.

3. Interpretation – Warum?

Auf dem Bild sieht man eine Person, die die Treppe hinabgeht. Sie erstrahlt gänzlich im Gold und wirkt somit sehr mechanisch. Die besondere Hervorhebung der Person und die Bewegungsschritte signalisieren den Neubeginn. Das (gewöhnlich) „Alte“ verschwimmt langsam und etwas Neues tritt hervor. Das Ende einer Zeit verdeutlicht auch die Treppe, welche sehr instabil zu wirken scheint. Das Gemälde „ Nu descendant un escalier“ von Marcel Duchamp entstand 1912. Dies war auch die Zeit der Maschinenentwicklung. Die Technisierung setzte ein (Roboter) und genau dies sorgt für den Verlust der Sinnlichkeit. Die dargestellte Bewegung der Person verstärkt noch dazu diese Neuentwicklung ( Maschine => Bewegung).

Intention des Malers:
Meiner Meinung nach wollte Marcel Duchamp zum einen auf das Vergehen der Welt, aber auch zum anderen auf das Ende der Disziplin des Aktes anspielen.
Denn die Kunst des Aktes wurde während dieser Zeit durch die entstandene Fotographie ersetzt. An einen sinnlichen erotischen Akt ist bei dieser Darstellung nicht zu denken.
Stellt man nun einen Zusammenhang zu den „Demoiselles“ von Picasso her, so wird die Entwicklung der Kunst deutlich. Während bei Picasso die Frauen in einzelne Teile (Grundformen) zerlegt sind, geht Marcel Duchamp noch einen Schritt weiter: Er zerlegt die bewegte Person in Einzelteile und macht somit die Bewegung sichtbar. Ausdiesem Grund kann Duchamps „Akt, eine Treppe herabsteigend“ als das Bindeglied zwischen Kubismus und Futurismus gesehen werden.

Pferdestudie von Edweard Muybridge
Bewegungsstudie von Edweard Muybridge


Bewegungsstudie von Étienne-Jules Marey

alternative Interpretation

In dem Gemälde „Akt, eine Treppe herabsteigend“ versucht Duchamp, die einzelnen Bewegungsabläufe einer Figur beim Treppe abwärtssteigen festzuhalten. Durch die rhythmische Wiederholung der geometrischen Formen und der Linien, welche den Körper in den unterschiedlichen Bewegungsphasen zergliedert darstellt, werden abfallende Diagonalen gebildet, die das Hinabsteigen verdeutlichen. Nur durch den Titel, welcher am unteren Bildrand notiert ist, wird klar,  dass es sich um einen Akt handelt. Unklar bleibt, ob es sich nun um einen männlichen oder weiblichen Körper handelt. Die Figur ähnelt einer Gliederpuppe oder einem Roboter. Bogenförmige und gepunktete Linien, welche an „Speedlines“ in Comics erinnern, deuten zusätzlich die Bewegung an.
Man kann das Werk als ein Bindeglied zwischen dem Kubismus und dem Futurismus sehen. Duchamp zerlegt die Bewegungsphasen in unterschiedliche Formen, die er eng übereinander schichtet und simultan zeigt. Auch im Kubismus werden unterschiedliche Ansichten eines Objekts simultan dargestellt (vergleiche Mehransichtigkeit bei Picassos „Les Demoiselles d’Avignon“) und die Farbigkeit der Malerei ist der in Duchamps Werk ähnlich. Jedoch sahen sich die Kubisten in Duchamps Gemälde karikiert. Denn die Kubisten beschäftigten sich stets mit statischen Dingen, wie dem Stillleben, der Landschaft oder dem Porträt.  Erst später, nach  1912, beschäftigten sich Futuristen mit der Bewegung. Aber auch von ihnen unterscheidet sich Duchamps Werk. Ihm ging es nicht um die Illusion einer Bewegung, sondern um ausgewählte exemplarische Bewegungsphasen wie in einem Funktionsdiagramm. Durch die Verbindung der schematisch-sachlichen Umsetzung mit dem sinnlichen Thema des Aktes, der kunstgeschichtlich eine lange Tradition hat, trifft Duchamp eine entscheidende Aussage: Mit dem traditionellen Akt, geht es im wahrsten Sinne des Wortes bergab.
Durch die Industrialisierung und der damit verbundenen Technisierung und Mechanisierung geht das Menschliche, Fleischliche verloren. Deshalb verabschiedet sich Duchamp vom klassischen Menschenbild und vom „Schönen Akt“. Auch die Malerei, als Kunstgattung seit jeher hoch geschätzt, tritt ihren Rang an die moderne Abbildungstechnik der Fotografie ab und bedient sich ihrer als Vorlage für die traditionelle Ölmalerei. So beruft sich Duchamp auf die Chronofotografie von Étienne-Jules Marey, welcher Personen in schwarzen Anzügen mit aufgemalten Gliedmaßen in Bewegung fotografierte und so Bewegungsabläufe sichtbar machte. Manche Linien und Punkte im „Akt, eine Treppe herabsteigend“ erinnern daran. Und auch heute basieren Animationen auf dem Prinzip, durch Fixpunkte Bewegungen von einer Person auf eine zu animierende Computerfigur zu übertragen.