Sonntag, 15. November 2015

Les Demoiselles d'Avignon (1907)


1. Bestandsaufnahme - WAS

Erster Eindruck:
Auf den ersten Blick wirkt das Gemälde chaotisch, hässlich, verwirrend, zerstückelt, vereinfacht.

Ausführliche Beschreibung:
Im Zentrum des Bildes befinden sich eng beisammen fünf formatfüllende nackte Frauen, die sich selbst dem Betrachter präsentieren. Vier davon stehen aufrecht, die fünfte sitzt in der rechten unteren Bildecke mit dem Rücken zum Betrachter. Ihr Kopf ist jedoch in der Frontalansicht gemalt, was mögliche Verwirrung aufwirft. Die mittleren stehenden Frauen sind von vorne dargestellt, während die beiden äußeren Frauen nach innen zur Bildmitte gewandt dargestellt sind. Im Gegensatz zu den anderen Frauen tragen die Damen in der Mitte beide ein weißes Tuch in der Nähe des Schambereichs. Ihre Haltung ähnelt sich: die Beine sind überkreuzt, ein (linke Frau) oder beide Arme (rechte Frau) sind gehoben und befinden sich hinter dem Kopf. Es scheint so, als würden sie bewusst posieren, um sich ihrem Betrachter zu präsentieren. Die beiden äußeren stehenden Frauen scheinen einen Vorhang beiseite zu schieben. Das Inkarnat ihrer Gesichter ist dunkler, als das der anderen Frauen.
Die Körper der Frauen wirken wie zerstückelt. Der Blick der Frauen wirkt durch die großen mandelförmigen Augen herausfordernd. Die Gesichter sind entstellt. Die Dame links im Gemälde hat ihren Kopf im Profil, jedoch wird diese Ansicht durch das Auge, welches zum Betrachter gerichtet ist, gestört. Außerdem sind Augen und Nase überproportional groß dargestellt. Die beiden rechten Frauen (stehend und sitzend) haben keine natürlichen Gesichter, sie wirken wie Masken oder Fratzen.
Unten in die Mitte des Bildes ragt die Ecke eines Tisches. Er ist mit einem weißen Tuch bedeckt und auf ihm steht eine Schale mit einer Melone, einem Apfel, Trauben und einer Birne.
Der Hintergrund hat einen ähnlichen Charakter wie die Frauenkörper, er wirkt zersplittert.

Verhältnis Bild-Betrachter:
Der Blick der mittleren Frauen fixiert den Betrachter und zieht ihn in ihren Bann. Gleichzeitig wirken die Formen und Masken eher abstoßend und zurückweisend.

2. Analyse der Gestaltungmittel
a) Organisation der Bildfläche

Fiktive Linien :
In dem Gemälde „Les Demoiselles d’Avignon“ von Pablo Picasso lassen sich die beiden Bilddiagonalen, sowie die vertikale und horizontale Symmetrieachse als fiktive Linien einzeichnen (in Abb.1 rot markiert). Wenn man die linke Frau und die Frau rechts oben im Bild betrachtet fällt einem auf, dass diese in Richtung der senkrechten Bildhalbierenden blicken, wohingegen die beiden Frauen in der Mitte einen geradeaus gerichteten Blick haben. Auffällig ist, dass die Beinstellung der sitzenden Frau rechts unten im Bild die Bilddiagonale betont. Die vertikale Bildhalbierende liegt auf der Körperachse der mittleren Frau. Sie wird vom oberen und unteren Bildrand durch eine Dreiecksform betont, indem sie durch die Spitze des Tisches und durch den Winkel der verschränkten Arme der mittleren Frau geht. Wenn man die Körperhaltung der vier stehenden Frauen betrachtet, kann man feststellen, dass deren senkrechten Körperachsen parallel zueinander stehen (in Abb. 1 grün markiert).

→ Die senkrechten fiktiven Linien (Körperachsen, Bildhalbierende) lassen die Frauen selbstsicher und stabil wirken.


Abb. 1

Abb. 2


Faktische Linien :
Die faktischen Linien bilden größtenteils Dreiecksformen, die unruhig wirken und eine gewisse Spannung erzeugen. (vgl. Abb. 2) Diese Form beeinflusst den Gesamtcharakter des Bildes, sie stellt – vor allem in Verbindung mit dem Sujet (Akt) - die Frauen aggressiv und entstellt dar.
Das Gemälde kann in drei Teile gegliedert werden, die durch die drei Farbzonen (Rotbraun, Weiß, Blau) des Hintergrunds gebildet werden. (in Abb.1 blau markiert)


b) Organisation des Bildraumes

Raumdarstellung/Tiefenräumlichkeit :
Die Figuren auf dem Bild sind überlebensgroß dargestellt.  Während man auf die Frauen von vorne blickt, wird der Tisch mit dem Obst in Aufsicht dargestellt. Eine ähnliche Simultaneität des Raumes kann man in den Gesichtern der Frauen entdecken (Augen in Frontansicht, Nasen im Profil). Die Körper der Frauen, sowie die Stoffdraperien um die Frauen besitzen kein Volumen, alles wird flächig dargestellt. Zu den Überschneidungen lässt sich sagen, dass die Frauen teilweise ihre Körper mit Tüchern bedecken und dass sich die einzelnen Körper der Frauen an manchen Punkten auch überschneiden, was eine leichte Räumlichkeit bewirkt. Es sind keine Höhenunterschiede zu erkennen. Das Bild erhält seine geringe Räumlichkeit nicht durch eine Linearperspektive (in dem Bild gibt es keinen „richtigen“ Fluchtpunkt), sondern eher durch die Farbperspektive. Durch die kalte Farbwahl im Hintergrund und die warmen Farbtöne im Vordergrund (Inkarnat der Frauen) heben sich die Körper der Frauen vom Hintergrund ab. Aufgrund der Überschneidungen lässt sich der Standpunkt des Betrachters etwa in der Mitte des Bildes festlegen. Auch die Andeutung von Schatten an den Körperrändern lässt das Bild leicht räumlich wirken.

wenig Räumlichkeit, Plastizität Simultaneität des Raumes 
Insgesamt : eine übertriebene Darstellung der Frauen merkwürdiges Frauenbild !

Lichtquelle :
Eine eindeutige Lichtquelle ist nicht zu erkennen.


c) Farbe als Grundelement

Farben und Farbkontraste :
Der Künstler verwendet eine reduzierte und gedämpfte Farbpalette mit den Farben Rotbraun, Weiß, Blau. Diese Farben bilden im Bild einen Kalt-Warmkontrast zwischen Hintergrund (Blau, Weiß, Ocker, Grau) und Vordergrund (Rot, Braun, Orange, Rosa). Dieser Kontrast simuliert etwas Räumlichkeit. Die Frauen wirken wie auf eine Bühne präsentiert. Wie oben schon erwähnt, werden die einzelnen Farben und Formen durch dunkle und helle Linien voneinander getrennt und betont.  

Farbfunktion :
Der flächige Farbauftrag lässt die Frauen wie Pappfiguren erscheinen. Die Farbe hat bei   diesem Bild also nicht die Aufgabe das Volumen der Frauenkörper zu betonen, sondern verstärkt den Ausdruck der Formen und somit die Gefühle der Frauen.

Malweise :
Die Farbe wurde grob und pastos mit einem Pinsel aufgetragen. Dies führt wiederum zu einer Betonung der Flächigkeit. Auch die betonten Konturen heben die einzelnen Formen hervor.

→ Betonung der Flächigkeit und der eckigen Formen
→ Bühnenwirkung


5. Interpretation - WARUM

Die Demoiselles befinden sich in einem Bordell, in welchem sie ihre Körper dem Betrachter wie auf einer Bühne (vgl. Kalt-Warmkontrast) anbieten. Sie wirken vital und selbstsicher (fiktive senkrechte Linien), aber auch entstellt und aggressiv (spitze Winkel, Masken). Denn die zersplitterten Formen und die grobe Malweise entsprechen nicht der traditionellen Darstellungsweise des weiblichen Körpers. Auf den Betrachter der damaligen Zeit wirkte das provokativ. Das Stillleben am unteren Bildrand kann in diesem Zusammenhang symbolisch für die Verführung stehen (vgl. Paradies, Sündenfall à Erkenntnis der Nacktheit).
Die beiden rechten Frauen tragen zur Anonymisierung afrikanische Masken, welche ihre wahre Identität verhüllen. (Picasso sammelte selber diese Art von Masken). Solche Masken sollen in Afrika böse Geister vertreiben, hier ist der böse Geist der Freier. Picasso spielt zugleich auf die damalige Kolonisierung in Afrika an, was dann den politischen Spiegel beschreibt. Ähnlich wie die Prostituieren vom Freier ausgebeutet werden, beutet der französische Staat seine Kolonien aus.
Außerdem galten diese Masken als künstlerisch „primitiv“, weshalb ihre Darstellung innerhalb der Königsdisziplin des Aktes ebenfalls provokativ auf die Betrachter wirkte.

Picasso ließ die Darstellung einer männlichen Person weg, wodurch das Bild weniger narrativ wirkt. Dafür wird der Blick nach draußen, vor das Bild gelenkt (Blick der beiden mittleren Frauen). Nun ist der Betrachter der Freier, er ist Teil der Ausbeutung. Der französischen Gesellschaft wird durch das Gemälde ein Spiegel vorgehalten, sowohl im politischen (Frankreich als Kolonialmacht), als auch im gesellschaftlichen Bereich (Doppelmoral der Gesellschaft).


Mit der Mehransichtigkeit (Simultaneität des Raumes) ist Picasso auf dem neuesten Stand der damaligen Wissenschaft. Neue Erfindungen und Erkenntnisse lassen Zweifel am alten Weltbild entstehen. Die Konstanten von Raum, Zeit und Längen werden bald negiert werden und das unmittelbar Sichtbare gilt nicht mehr als die einzige Wahrheit.