von Marcel Duchamp
Öl auf Leinwand
147 x 89,2 cm
1. Bestandsaufnahme – Was?
Erster
Eindruck:
Auf den ersten Blick wirkt das Gemälde hell, verwirrend, chaotisch,
verschwommen und dunkel-/ hellkontrastreich.
Erste Vermutungen:
Eine erste Vermutung lautet, es handele sich auf dem Gemälde um Personen
mit Musikinstrumenten. Des Weiteren kommt der Gedanke eines Brückengebildes
auf, welches sich durch eine Holzstruktur auszeichnet.
Durch genaues Betrachten wird die richtige Intention des Malers erkannt,
bei der es sich um eine Personendarstellung handelt. Diese ist in verschiedenen
Positionen der Bewegung (Hinunterlaufen einer Treppe) dargestellt. Auch der
Titel des Bildes „Akt, eine Treppe herabsteigend“ bestätigt diese Vermutung.
Ausführliche
Bildbeschreibung:
In der Mittelzone des Bildes befindet sich eine Person, die in Bewegung
dargestellt ist. Der Maler stellt dabei das
Hinabsteigen dar, in dem er die verschiedenen Bewegungsphasen nacheinander
und überschneidend malt. Erkennbar ist, dass die Positionen im Hintergrund
immer undeutlicher dargestellt werden und oft ineinander übergehen. Am Ende der
Bewegungsspur ist die Person am deutlichsten zu erkennen. Die Körperform ist
jedoch nur indirekt aus Teilformen von Ellipsen und Trapezen erschließbar.
Die Person ist sehr hell gemalt und lässt sich so vom dunklen
Hintergrund sehr gut unterscheiden. Im Hintergrund bzw. in den Bildecken lassen
sich Formgebilde einer Treppe gut erkennen. Diese bilden gleichzeitig auch den
Untergrund, auf dem die Person geht. Außerdem lässt sich am rechten Bildrand auch
die Kugel am Ende des Geländers ausfindig machen, welche die Idee der Treppe
noch einmal verstärkt.
Verhältnis Bild –
Betrachter:
Der Blick des Betrachter wird automatisch auf die Person im Zentrum des
Bildes gelenkt, da diese sehr hell dargestellt wird (vgl.
Hell-/Dunkelkontrast).
Jedoch wirkt diese vom Maler gewählte Darstellung eher verwirrend und
wird erst bei genauerem Anblick logisch für den Betrachter.
2. Analyse der Gestaltungsmittel – Wie?
Organisation
der Bildfläche:
Das Gemälde „Akt, eine Treppe herabsteigend“ ist ein schmales hochformatiges
Bild. Die dunkeln Bildecken bilden eine Art Rahmen für die Person, sie haben
das Motiv der Treppe.
Die Mittelzone des Bildes ist folgendermaßen organisiert:
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faktische und fiktive Kompositionslinien |
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faktische Linien:
Aufeinanderfolgende Flächen und Linien deuten einzelne Körperteile an. Hierbei
stechen die Linien der Kopfhaltung heraus ( hier: rot), welche aufzeigen, dass
die Person den Kopf nach unten geneigt hat und den Betrachter somit nicht
anblickt.
Weiter Linien und Flächen deuten Rumpf und Arme (grün), Becken
(hellblau) und Beine (dunkelblau) an.
Doppellinien und parallele Linien drücken
Bewegung aus. Diese Bewegung wird durch geschwungene Bögen in Form von
Bewegungslinien begleitet. Der Charakter der Linien wird von links oben nach
rechts unten immer geradliniger, monotoner und präziser. Er wirkt in der
zuletzt dargestellten Bewegungsphase sogar technisch.
fiktive Linien:
Die einzelnen hintereinander gestaffelten Körperformen bilden jeweils
eine abfallende Diagonale (gelb). Nach Kandinsky wirkt die abfallende Linie
negativ. Die Abfolge der (tatsächlichen) Mitte des Körpers (auf Schambeinhöhe,
hier hellblau) halbiert das Gemälde in zwei gleichgroße Trapeze (mittlere gelbe
Diagonale).
Zusammenfassend
wird deutlich, dass die Haltung der dargestellten Person immer aufrechter wird.
(vgl. dunkelblaue und hellgrüne Linien). Die Gesamtheit der Linien zeigt eine rhythmische Anordnung auf, welche die absteigenden Diagonalen konkretisieren.
Außerdem werden die Linien vom Hintergrund in den Vordergrund übergehend immer
präziser.
Flächen:
Die Flächen des Gemäldes zeichnen sich zum einen durch Dreiecke, Kreise
und Halbkreise als auch durch Vierecke und spitze Winkel aus. Die einzelnen
Abschnitte gehen ineinander über und verschwimmen in Richtung des
dunkelwerdenden Hintergrunds. Der auffallende Hell-/ Dunkelkontrast hebt die
Personendarstellung vom Hintergrund hervor, sodass die Figur strahlend und
leuchtend auftritt. Der Hintergrund wirkt als Rahmen dagegen eher dunkel und
düster.
Organisation des
Bildraumes:
Legt man den Fokus als erstes auf die Größenveränderung der Linien (v.a.
die hellblau und dunkelblau markierten), so lässt sich feststellen, dass sie
von links oben nach rechts unten größer werden. Begleitend dazu werden die
Farben heller und die Linien präziser. Dies verleiht der Bewegung der Figur
eine gewisse Räumlichkeit. Auch das Überschneiden der dargestellten
Bewegungsphasen und die Andeutung von Schatten unterstützen den räumlichen
Eindruck. Es lässt sich zwar erkennen, dass es eine Beleuchtung von vorne gibt,
jedoch lässt sich keine eindeutige Lichtquelle ausfindig machen.
Die helle Darstellung der Bewegungsphasen tritt durch den Kontrast zu
den dunkeln Randzonen mit dem Motiv der Treppe in den Vordergrund. Auch in der
Darstellung der Treppen lasen sich Ansätze von Räumlichkeit erkennen: rechts
oben Treppenstufen im Schrägbild, links oben werden die Abstände zwischen den
Stufen nach unten hin größer, und links unten sehen wir die größten Stufen in
Profilansicht. Sie dienen der Figur als eine Art Sockel. Davor sehen wir
wiederum kleine Stufen in Schrägbild und darüber Stufen, die an ein Wasserrad
erinnern. Insgesamt wirken die Treppenstufen surreal oder nur wie eine Idee von
Treppe, mit der der Randbereich gefüllt wird.
Farbe als
Grundelement:
Farben und
Farbkontraste:
Bei diesem Gemälde handelt es sich um eine warme, monochrom gehaltene
Farbpalette ( von hellem Gelb über Ocker hin bis fast schwarze Töne).
Der Künstler verwendet für den Hintergrund hauptsächlich Brauntöne und
für den Vordergrund helle Beigetöne. Die hellen Töne im Zentrum des Gemäldes
zeigen dazu eine gewisse starke Intensität auf, wohingegen die Intensität im
dunklen Hintergrund eher schwach und düster ist. Der Vordergrund hebt sich durch
den Hell-Dunkel-Kontrast deutlich vom Hintergrund ab.
Farbfunktion und
Malweise:
Die Farbe wurde hier flächig aufgetragen und dunkle Konturen und abgedunkelte Flächen lassen die einzelnen Bewegungsphasen erkennen.
Die Farbe wurde hier flächig aufgetragen und dunkle Konturen und abgedunkelte Flächen lassen die einzelnen Bewegungsphasen erkennen.
Die Farbe wurden teilweise lasierend aufgetragen, sodass manche Formen
transparent wirken. Die meisten Flächen sind einfarbig oder haben einen
leichten Hell-Dunkel-Verlauf, der nicht den ursprünglichen Körperformen folgt
und der letzten Bewegungspose einen metallischen Glanz verleiht. Dies betont
die Flächigkeit des Bildes und unterstreicht sowohl Konturen als auch einzelne
Formen.
Da die Farben der Positionen im Hintergrund dunkler sind, kann man
daraus schließen, dass diese zurückliegen, also Vergangenheit sind.
3. Interpretation – Warum?
Auf dem Bild sieht man eine Person, die die Treppe hinabgeht. Sie
erstrahlt gänzlich im Gold und wirkt somit sehr mechanisch. Die besondere
Hervorhebung der Person und die Bewegungsschritte signalisieren den Neubeginn.
Das (gewöhnlich) „Alte“ verschwimmt langsam und etwas Neues tritt hervor. Das Ende
einer Zeit verdeutlicht auch die Treppe, welche sehr instabil zu wirken
scheint. Das Gemälde „ Nu descendant un escalier“ von Marcel Duchamp entstand
1912. Dies war auch die Zeit der Maschinenentwicklung. Die Technisierung setzte
ein (Roboter) und genau dies sorgt für den Verlust der Sinnlichkeit. Die
dargestellte Bewegung der Person verstärkt noch dazu diese Neuentwicklung ( Maschine
=> Bewegung).
Intention des Malers:
Meiner Meinung nach wollte Marcel Duchamp zum einen auf das Vergehen der
Welt, aber auch zum anderen auf das Ende der Disziplin des Aktes anspielen.
Denn die Kunst des Aktes wurde während dieser Zeit durch die entstandene
Fotographie ersetzt. An einen sinnlichen erotischen Akt ist bei dieser
Darstellung nicht zu denken.
Stellt man nun einen Zusammenhang zu den „Demoiselles“ von Picasso her,
so wird die Entwicklung der Kunst deutlich. Während bei Picasso die Frauen in
einzelne Teile (Grundformen) zerlegt sind, geht Marcel Duchamp noch einen
Schritt weiter: Er zerlegt die bewegte Person in Einzelteile und macht somit
die Bewegung sichtbar. Ausdiesem Grund kann Duchamps „Akt, eine Treppe
herabsteigend“ als das Bindeglied zwischen Kubismus und Futurismus gesehen
werden.
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Pferdestudie von Edweard Muybridge |
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Bewegungsstudie von Edweard Muybridge |
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Bewegungsstudie von Étienne-Jules Marey |
alternative Interpretation
In dem Gemälde „Akt, eine Treppe
herabsteigend“ versucht Duchamp, die einzelnen Bewegungsabläufe einer Figur
beim Treppe abwärtssteigen festzuhalten. Durch die rhythmische Wiederholung der
geometrischen Formen und der Linien, welche den Körper in den unterschiedlichen
Bewegungsphasen zergliedert darstellt, werden abfallende Diagonalen gebildet,
die das Hinabsteigen verdeutlichen. Nur durch den Titel, welcher am unteren
Bildrand notiert ist, wird klar, dass es
sich um einen Akt handelt. Unklar bleibt, ob es sich nun um einen männlichen
oder weiblichen Körper handelt. Die Figur ähnelt einer Gliederpuppe oder einem Roboter.
Bogenförmige und gepunktete Linien, welche an „Speedlines“ in Comics erinnern,
deuten zusätzlich die Bewegung an.
Man kann das Werk als ein Bindeglied
zwischen dem Kubismus und dem Futurismus sehen. Duchamp zerlegt die
Bewegungsphasen in unterschiedliche Formen, die er eng übereinander schichtet
und simultan zeigt. Auch im Kubismus werden unterschiedliche Ansichten eines
Objekts simultan dargestellt (vergleiche Mehransichtigkeit bei Picassos „Les
Demoiselles d’Avignon“) und die Farbigkeit der Malerei ist der in Duchamps Werk
ähnlich. Jedoch sahen sich die Kubisten in Duchamps Gemälde karikiert. Denn die
Kubisten beschäftigten sich stets mit statischen Dingen, wie dem Stillleben,
der Landschaft oder dem Porträt. Erst
später, nach 1912, beschäftigten sich
Futuristen mit der Bewegung. Aber auch von ihnen unterscheidet sich Duchamps
Werk. Ihm ging es nicht um die Illusion einer Bewegung, sondern um ausgewählte
exemplarische Bewegungsphasen wie in einem Funktionsdiagramm. Durch die
Verbindung der schematisch-sachlichen Umsetzung mit dem sinnlichen Thema des
Aktes, der kunstgeschichtlich eine lange Tradition hat, trifft Duchamp eine
entscheidende Aussage: Mit dem traditionellen Akt, geht es im wahrsten Sinne
des Wortes bergab.
Durch die Industrialisierung
und der damit verbundenen Technisierung und Mechanisierung geht das
Menschliche, Fleischliche verloren. Deshalb verabschiedet sich Duchamp vom
klassischen Menschenbild und vom „Schönen Akt“. Auch die Malerei, als
Kunstgattung seit jeher hoch geschätzt, tritt ihren Rang an die moderne Abbildungstechnik
der Fotografie ab und bedient sich ihrer als Vorlage für die traditionelle
Ölmalerei. So beruft sich Duchamp auf die Chronofotografie von Étienne-Jules
Marey, welcher Personen in schwarzen Anzügen mit aufgemalten Gliedmaßen in
Bewegung fotografierte und so Bewegungsabläufe sichtbar machte. Manche Linien
und Punkte im „Akt, eine Treppe herabsteigend“ erinnern daran. Und auch heute
basieren Animationen auf dem Prinzip, durch Fixpunkte Bewegungen von einer
Person auf eine zu animierende Computerfigur zu übertragen.