1. Bestandsaufnahme - WAS
Erster
Eindruck:
Auf den ersten Blick wirkt das Gemälde chaotisch,
hässlich, verwirrend, zerstückelt, vereinfacht.
Ausführliche
Beschreibung:
Im Zentrum des Bildes befinden sich eng beisammen fünf
formatfüllende nackte Frauen, die sich selbst dem Betrachter präsentieren. Vier
davon stehen aufrecht, die fünfte sitzt in der rechten unteren Bildecke mit dem
Rücken zum Betrachter. Ihr Kopf ist jedoch in der Frontalansicht gemalt, was
mögliche Verwirrung aufwirft. Die mittleren stehenden Frauen sind von vorne
dargestellt, während die beiden äußeren Frauen nach innen zur Bildmitte gewandt
dargestellt sind. Im Gegensatz zu den anderen Frauen tragen die Damen in der
Mitte beide ein weißes Tuch in der Nähe des Schambereichs. Ihre Haltung
ähnelt sich: die Beine sind überkreuzt, ein (linke Frau) oder beide Arme
(rechte Frau) sind gehoben und befinden sich hinter dem Kopf. Es scheint so,
als würden sie bewusst posieren, um sich ihrem Betrachter zu präsentieren. Die
beiden äußeren stehenden Frauen scheinen einen Vorhang beiseite zu schieben.
Das Inkarnat ihrer Gesichter ist dunkler, als das der anderen Frauen.
Die Körper der Frauen wirken wie zerstückelt.
Der Blick der Frauen wirkt durch die großen mandelförmigen Augen
herausfordernd. Die Gesichter sind entstellt. Die Dame links im Gemälde
hat ihren Kopf im Profil, jedoch wird diese Ansicht durch das Auge, welches zum
Betrachter gerichtet ist, gestört. Außerdem sind Augen und Nase
überproportional groß dargestellt. Die beiden rechten Frauen (stehend und
sitzend) haben keine natürlichen Gesichter, sie wirken wie Masken oder
Fratzen.
Unten in die Mitte des Bildes ragt die Ecke eines
Tisches. Er ist mit einem weißen Tuch bedeckt und auf ihm steht eine Schale
mit einer Melone, einem Apfel, Trauben und einer Birne.
Der Hintergrund hat einen ähnlichen Charakter wie die
Frauenkörper, er wirkt zersplittert.
Verhältnis
Bild-Betrachter:
Der Blick der mittleren Frauen fixiert den Betrachter und zieht
ihn in ihren Bann. Gleichzeitig wirken die Formen und Masken eher
abstoßend und zurückweisend.
2. Analyse der Gestaltungmittel
a) Organisation der Bildfläche
Fiktive Linien :
In dem Gemälde „Les Demoiselles d’Avignon“ von
Pablo Picasso lassen sich die beiden Bilddiagonalen, sowie die vertikale
und horizontale Symmetrieachse als fiktive Linien einzeichnen (in Abb.1 rot
markiert). Wenn man die linke Frau und die Frau rechts oben im Bild betrachtet
fällt einem auf, dass diese in Richtung der senkrechten Bildhalbierenden blicken,
wohingegen die beiden Frauen in der Mitte einen geradeaus gerichteten Blick
haben. Auffällig ist, dass die Beinstellung der sitzenden Frau rechts
unten im Bild die Bilddiagonale betont. Die vertikale Bildhalbierende liegt auf
der Körperachse der mittleren Frau. Sie wird vom oberen und unteren Bildrand
durch eine Dreiecksform betont, indem sie durch die Spitze des Tisches und
durch den Winkel der verschränkten Arme der mittleren Frau geht. Wenn man die
Körperhaltung der vier stehenden Frauen betrachtet, kann man feststellen, dass
deren senkrechten Körperachsen parallel zueinander stehen (in Abb. 1
grün markiert).
→ Die senkrechten fiktiven Linien (Körperachsen,
Bildhalbierende) lassen die Frauen selbstsicher und stabil wirken.
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Abb. 1 |
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Abb. 2 |
Faktische Linien :
Die faktischen Linien bilden größtenteils Dreiecksformen, die unruhig
wirken und eine gewisse Spannung erzeugen. (vgl. Abb. 2) Diese Form beeinflusst den Gesamtcharakter des
Bildes, sie stellt – vor allem in Verbindung mit dem Sujet (Akt) - die Frauen aggressiv
und entstellt dar.
Das Gemälde kann in
drei Teile gegliedert werden, die durch die drei Farbzonen (Rotbraun,
Weiß, Blau) des Hintergrunds gebildet werden. (in Abb.1 blau markiert)
b) Organisation des Bildraumes
Raumdarstellung/Tiefenräumlichkeit
:
Die Figuren auf dem
Bild sind überlebensgroß dargestellt. Während man auf die Frauen von vorne
blickt, wird der Tisch mit dem Obst in Aufsicht dargestellt. Eine
ähnliche Simultaneität des Raumes kann man in den Gesichtern der Frauen
entdecken (Augen in Frontansicht, Nasen im Profil). Die Körper der Frauen,
sowie die Stoffdraperien um die Frauen besitzen kein Volumen, alles wird
flächig dargestellt. Zu den Überschneidungen lässt sich sagen, dass die
Frauen teilweise ihre Körper mit Tüchern bedecken und dass sich die einzelnen
Körper der Frauen an manchen Punkten auch überschneiden, was eine leichte
Räumlichkeit bewirkt. Es sind keine Höhenunterschiede zu erkennen. Das
Bild erhält seine geringe Räumlichkeit nicht durch eine Linearperspektive (in
dem Bild gibt es keinen „richtigen“ Fluchtpunkt), sondern eher durch die Farbperspektive.
Durch die kalte Farbwahl im Hintergrund und die warmen Farbtöne im
Vordergrund (Inkarnat der Frauen) heben sich die Körper der Frauen vom
Hintergrund ab. Aufgrund der Überschneidungen lässt sich der Standpunkt des
Betrachters etwa in der Mitte des Bildes festlegen. Auch die Andeutung von
Schatten an den Körperrändern lässt das Bild leicht räumlich wirken.
→ wenig Räumlichkeit,
Plastizität → Simultaneität des
Raumes
Insgesamt : eine
übertriebene Darstellung der Frauen →
merkwürdiges Frauenbild !
Lichtquelle :
Eine eindeutige Lichtquelle ist nicht zu erkennen.
c) Farbe als Grundelement
Farben und Farbkontraste :
Der Künstler verwendet
eine reduzierte und gedämpfte Farbpalette mit den Farben Rotbraun, Weiß,
Blau. Diese Farben bilden im Bild einen Kalt-Warmkontrast zwischen
Hintergrund (Blau, Weiß, Ocker, Grau) und Vordergrund (Rot, Braun, Orange, Rosa).
Dieser Kontrast simuliert etwas Räumlichkeit. Die Frauen wirken wie auf eine
Bühne präsentiert. Wie oben schon erwähnt, werden die einzelnen Farben und
Formen durch dunkle und helle Linien voneinander getrennt und betont.
Farbfunktion :
Der flächige
Farbauftrag lässt die Frauen wie Pappfiguren erscheinen. Die Farbe hat bei diesem Bild also nicht die Aufgabe das Volumen
der Frauenkörper zu betonen, sondern verstärkt den Ausdruck der Formen und
somit die Gefühle der Frauen.
Malweise :
Die Farbe wurde grob
und pastos mit einem Pinsel aufgetragen. Dies führt wiederum zu einer Betonung
der Flächigkeit. Auch die betonten Konturen heben die einzelnen Formen hervor.
→ Betonung der Flächigkeit und der eckigen Formen
→ Bühnenwirkung
5. Interpretation - WARUM
Die Demoiselles
befinden sich in einem Bordell, in welchem sie ihre Körper dem Betrachter wie auf einer Bühne (vgl. Kalt-Warmkontrast)
anbieten. Sie wirken vital und selbstsicher (fiktive senkrechte Linien), aber auch
entstellt und aggressiv (spitze Winkel, Masken). Denn die zersplitterten Formen
und die grobe Malweise entsprechen nicht der traditionellen Darstellungsweise
des weiblichen Körpers. Auf den Betrachter der damaligen Zeit wirkte das
provokativ. Das Stillleben am
unteren Bildrand kann in diesem Zusammenhang symbolisch für die Verführung
stehen (vgl. Paradies, Sündenfall à
Erkenntnis der Nacktheit).
Die beiden rechten
Frauen tragen zur Anonymisierung afrikanische
Masken, welche ihre wahre Identität verhüllen. (Picasso sammelte selber
diese Art von Masken). Solche Masken sollen in Afrika böse Geister vertreiben,
hier ist der böse Geist der Freier. Picasso spielt zugleich auf die damalige
Kolonisierung in Afrika an, was dann den politischen Spiegel beschreibt. Ähnlich
wie die Prostituieren vom Freier ausgebeutet werden, beutet der französische
Staat seine Kolonien aus.
Außerdem galten diese
Masken als künstlerisch „primitiv“, weshalb ihre Darstellung innerhalb der
Königsdisziplin des Aktes ebenfalls provokativ auf die Betrachter wirkte.
Picasso ließ die
Darstellung einer männlichen Person weg, wodurch das Bild weniger narrativ
wirkt. Dafür wird der Blick nach draußen, vor das Bild gelenkt (Blick der
beiden mittleren Frauen). Nun ist der Betrachter
der Freier, er ist Teil der Ausbeutung. Der französischen Gesellschaft wird
durch das Gemälde ein Spiegel vorgehalten, sowohl im politischen (Frankreich
als Kolonialmacht), als auch im gesellschaftlichen Bereich (Doppelmoral der
Gesellschaft).
Mit der
Mehransichtigkeit (Simultaneität des
Raumes) ist Picasso auf dem neuesten Stand der damaligen Wissenschaft. Neue
Erfindungen und Erkenntnisse lassen Zweifel am alten Weltbild entstehen. Die
Konstanten von Raum, Zeit und Längen werden bald negiert werden und das
unmittelbar Sichtbare gilt nicht mehr als die einzige Wahrheit.